Hinweise auf Bücher
«Sindbad»
E.H. Der Untertitel des Buches von Gyula Krúdy lautet
«Reisen im Diesseits und Jenseits» und weist auf das
ständige Unterwegssein des seltsamen Reisenden hin, der seinesgleichen in der Weltliteratur sucht. Sindbad, der Seefahrer, ist das Symbol des Krúdyschen Lebensgefühls, und
somit der Name seines liebsten Helden, dessen Sehnsüchte und Frauenabenteuer er auf gewundenen Wegen im Leben
und im Tode in immer neuen
Variationen auf dasselbe Thema verfolgt. Sindbad, der große Frauenverführer, ist ein Träumer
ohne Bindung und Moral, der seiner Sehnsucht in allen
Gestalten nachjagt und immer mit leeren Händen ausgeht, wie sein Vorfahre
Don Juan, obgleich alle Frauen, die ihn geliebt haben — und es sind deren zahllose
—, ihm in alle Ewigkeit ergeben
sind.
Der 1933 verstorbene Gyula Krúdy ist eine eigenartige Erscheinung in der ungarischen Literatur. Wie bei dem
Anekdotenerzähler Mikszáth kreisen
seine Geschichten um die ausgefallenen Gestalten des ungarischen Oberlandes. Während aber Mikszáth in der Gegenwart und in der Wirklichkeit verwurzelt ist, bedeutet die Realität für Krúdy nur einen flüchtigen
Ausgangspunkt, um sich in seinen
Tagträumereien verlieren zu können. An irgendeinem
Punkt hört das Erzählte auf
zu existieren, und die Sätze, Gedanken, Bilder fließen weiter, beginnen ein eigenes Dasein
zu führen, verweben sich oder
verblassen, bestricken mit ihrem welken Charme,
man meint hinter den Worten den Duft verblühter Veilchen und die gespenstische Präsenz einer Traumatmosphäre des späten Biedermeier zu spüren, den es in dieser Form nie
geben konnte. Die romantische Nostalgie nach den guten alten Zeiten, da die Kavaliere in engen Lackschuhen
kleinen Choristinnen und Näherinnen nachstiegen,, das sonderbare großstädtische Balkanleben Budapests oder Fahrten in altertümlichen
Kutschen durch schneeverwehte Fieberlandschäften,
Zwischenhalte in halbverfallenen Herrenhäusern mit
ihren leise dahinwelkenden Damen, Uebernachtungen in heruntergekommenen Gasthöfen, aus denen aber
handfest und zudringlich
der lebensfrohe Geruch von Gulasch und Paprika in die Winternacht hinausströmt; dann wieder Irrwege
in den verträumten kleinen Straßen mit ihren armseligen Häusern im alten
Ofen, wo alternde Frauen mit zerknitterten Strumpfbändern dem ewigen und einzigen Sindbad nachtrauem, diese altmodischen Ausflüge in niedagewesene Verstecke niebefriedigter Liebe ohne Geschichte:
dies sind Krúdys ureigenste Schöpfungen.
Wollte man aber diesen
Lieben eine Geschichte geben, so könnten zwei
knappe Krúdysche Seiten rosaseidener Erinnerungen Bände füllen. Selten taucht in den nach
altem Lavendel duftenden Erzählungen der junge und feurige Sindbad auf, obgleich
der Leser ihm ruhig zugestehen kann, daß er
einst ganze Landteile bevölkerte Krúdy sieht vor allem
den ergrauten, oft dreihundert Jahre alten Sindbad oder
noch lieber sein Gespenst, das in einsamen
Herbstnächten den Frauen
von einst nachstellt und sie allein mit seinem spukhaften Erscheinen beglücken kann.
Beginnt man eine Geschichte
zu lesen, so weiß man nie, auf
welche Wanderungen sirt führen wird,
und vermutlich wußte das Krúdy selber nicht. Der Künstler regt sich bei
ihm dort, wo die Feder sieh
im raschelnden Laub schnell verwelkender
Herbste oder im Schneegestöber langer Winternächte verfängt. Da setzt eine magische Sprache
ein, die verzaubert erträumten Vergangenheiten nach jagt: dabei
ist er mit der verblaßten Poesie seiner Biedermeiersträuße in dieser Suche
nach der verlorenen Zeit moderner als irgendeiner
seiner ungarischen Zeitgenossen. Alle Wege führen überallhin,
wie etwa bei Virginia Woolf. Las ewig sich wiederholende
Spiel des Eros, mit den ewig gleichen Requisiten,
Gesten und Worten, wird, trotz der wohligen Sehnsucht, von außen her und mit einer resignierten Ironie beobachtet, denn der Traum erfüllt sich nie,
und die Liebe befriedigt Sindbad weder in
diesem noch in dem anderen
Leben. Er stirbt auf viele
Arten, kann als Toter, Gespenst
oder heimkehrende Seele bei den einstigen
Frauen erscheinen, zur Holzperle im
Rosenkranz einer Nonne werden, um
dann in das
Zimmer einer sich kämmenden Schönen zu rollen — er
bleibt ungesättigt, ein ewiger Lazarus
der Liebe an gedeckten Tischen.
Ein besonderer Glücksfall, daß diese von György Sebestyén
besorgte Auswahl der Sindbad-Geschichten in Oesterreich übersetzt wurde, denn in
der Sprache erkennt man jene unverwechselbare Aura der Donaumonarchie wieder, in der ein solches
Œuvre entstehen konnte.
(Paul Zsolnay-Verlag, Wien)
(Neue Zürcher Zeitung /Zürich/, 1967/308. /november 9./ 15. p.)