Eines ungarischen Wanderers
Nachtlied
Gyula
Krúdys „Rote Postkutsche” im Vígszínház
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Gábor Gacs: Grafik zu Krudy |
So schwer es ist, an den einzigartigen Zauber, der aus Goethes „Wanderers
Nachtlied” ausstrahlt, mit anderer Stimmung und anderen Gedanken als den eigenen heranzugehen, so schwer ist es, mit fremden Mitteln und kritisch-ästhetischen Methoden ein so spezifisches
und in der Literatur schlechthin unvergleichbares Phänomen zu analysieren,
wie die Welt Gyula Krúdys. In
Goethes kleinem Meisterwerk gibt es kein einziges Wort,
das einen Anhaltspunkt bieten und erklären könnte, woher dieses Gedicht
so unwiederholbar und eigenartig ist. Allgemein gebräuchliche Ausdrücke, ungezierte Hauptwörter und Attribute, die nur im Milieu
des Gedichts die außergewöhnliche
Bedeutung, die souveräne Nuancierung und den sonderbaren Glanz erhalten, in der kursiven Sprache aber grau
und unbedeutend sind: Larven, in denen
die raren Möglichkeiten des
Schmetterlings gar nicht geahnt werden
können.
Ebenso mysteriös ist
die Prosa Gyula Krúdys. Geboren
in einer von winzigen Teichen und Röhrichten übersäten charakteristischen Gegend der ungarischen Tiefebene, im Nyírség, ist der Autor oder vielmehr
seine Herkunft ebenso fern von der begüterten Gentry-Gesellschaft umringt, wie seine
Heimaterde von den südlichsten
Ausläufern der Karpaten,
den feurigen Tokajer Weinbergen umstellt ist. Auf dem
Lande geboren, dämmern in seiner
Phantasie Erinnenungen aus seiner Kindheit
an Jagden und Gelagen. In Budapest lebte er inmitten von Schriftstellern, Journalisten, Schauspielern; aus seiner Vorliebe für Pferderennen und Jockeys, Kneipen und alte Kellner, Bettler und Bürferfrauen drang die großstädtische Neurastenie in seine Poesie
ebenso wie der bitterironische gesellschaftliche
Scharfblick, der in seinen Werken zumeist
in rührseliger Lyrik, manchmal in fern donnerdem
Zorn, aber immer in unwiderstehlicher,
farbenprächtiger Erzählungslust
zum Ausdruck kommt. Lebte er,
wäre er dieses
Jahr 90 Jahre alt.
Nun,
Krúdys Prosa — er schrieb unzählige Romane und Erzählungen, aber nur wenige
Bühnenwerke — folgt ebenso souveränen Eigengesetzen wie Goethes kleines Meisterwerk. Es ist schwer zu erklären,
was seine von einfachen Gedanken stammenden, gleichfalls einfache Gedanken-Nachkommen zeugenden sprudelnden Worte in die Höhen
einer sublimierten künstlerischen Sphäre emporhebt. Wieso wird der kräftige Baustoff der Wirklichkeit, dessen er sich
bedient, unversehens durchsichtig und fein? Warum entschwindet der Stein, als wäre er
aus Dunst und Nebel, wenn er
ihn berührt? Wie kommt es, daß
der gemeinste Knoblauch,
von ihm dosiert, zum kostbaren orientalen
Gewürz wird? Es ist einfach unerklärlich.
Immerhin steht fest, wenn Krúdy das Wort Frauenhaar niederschreibt, blüht hinter dem Wort
plötzlich das Los einer Frau, das
Schicksal von Männern auf, die sich vor
dieser flammenden Haarkrone in die weite Welt flüchten, irgendwo unter einem Pseudonym als Wanderkomödianten leben, um auf
Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Dann schreibt Krúdy wieder das Wort „Frauenhaar”
— er schreibt es ja oft! — und da leuchtet plötzlich über dem Wort der honigfarbene Frühlingsmond auf, es erscheint ein verführtes Fräulein, das sich
noch zum letzten Mal im
Kämmerlein bei Kerzenlicht die Haare kämmt, bevor es seinen Todessprung in die Fluten macht.
Was ist dieser Zauber?
Wer weiß es?... Und läßt er sich
überhaupt auf die Bühne transponieren?
Gyula
Krúdy schrieb nur drei Bühnenwerke. Die Rote Postkutsche sollte einen großen
Romanerfolg des Jahres
1913, zumindest im Titel, auf der Bühne wiederholen.
Er schuf das Stück im
Jahre 1918, indem er zum vorhandenen,
schon gut klingenden Titel verschiedene Einzelfiguren aus seinen Erzählungen und Romanen zusammenklaubte und in eine neue
und einfache Handlung stellte. Auf einem
Ball in der Provinz lernt die Pflegetochter eines hoffärtigen großen Herren einen jungen Journalisten kennen, der sie in die Hauptstadt entführt, und zwar gleich in ein
Bordell. Das Mädchen kehrt mit gebrochenem Herzen auf den verfallenen Herrenhof zurück. So weit die Handlung.
Die verworrene Geschichte und die beklommenen Figuren hätte ein Tschechow
schreiben können — aber in einem
ungarischen Traum. Jawohl, im Traum,
denn Krúdy unterwarf sich nicht der Bühnendisziplin Tschechows, sondern ließ das
Stück ebenso uferlos, wie seine köstlichen Romane, mit derselben Unabhängigkeit, die seiner würzigen Prosa ihren wundersamen Zauber verlieh. Nur ist eben die Bühne kaum geneigt,
derartige Zauberei zu ertragen. Die bunte Erzählungslust zerschellt an der unbarmherzigen Disziplin des dramatischen Dialogs.
Was in Krüdys Prosa
eine hinreißende und unwiderstehliche Gedankenassoziation
war, zerstäubt im Drama zur
Vision. Es bleibt nach wie vor
schön, ist aber von epischer und nicht dramatischer Schönheit, es ist lyrisch schön, nicht spannend, eine verträumte Ruine, kein Bauwerk.
Das ganze Krúdysche Lebenswerk ist eigentlich eines ungarischen Wanderers Nachtlied, eine großartige und unwiederholbäre Improvisation, wenn aufch der einsame Leser noch
so große Anstrengungen, noch so viel Fleiß
und Lebenserfahrung zu spüren bekommt. Doch im Theater
wirkt die geniale Improvisation nicht, — nach gewisser Zeit ermattet die Aufmerksamkeit, der beschauliche Genuß des einsamen Lesers kann im Theater
nicht zur Geltung kommen. Kein Wunder, wenn
dieses Stück ein halbes Jahrhundert
hindurch nicht gespielt wurde. Die gegenwärtige Uraufführung im Vígszínház stellt wieder einmal unter
Beweis, daß Krúdys Lebenswerk vor allem eine hochwertige
Lektüre ist. Wenn eines seiner
Stücke doch gespielt wird, so ist das
eher ein pietätvoller literarischer Ritus, als ein
dramatisches Erlebnis.
Solcherart ist auch die Uraufführung im Vígszínház zu betrachten, selbst wenn das
Stück in der Hand des jungen Regisseurs Dezső Kapás hin und wieder auf bühnenbe-dingten
Hochtouren läuft, und wenn auch einige
typische Krúdy-Figuren in der Darstellung von Iván Darvas, László Tahi Tóth, Tivadar Bilicsi,
Sándor Pethes, Elma Bulla, Éva Schubert, Erzsi Pártos oder
Judit Halász für Augenblicke
auf den Brettern zum Leben erweckt
werden.
Es liegt nicht am Regisseur und auch nicht an den ausgezeichneten Schauspielern, daß nur ein Abglanz
von Krúdys schimmernder Ausstrahlung
von den Kulissen reflektiert
wird, ohne den Zuschauer unmittelbar zu packen.
Béla Mátrai-Betegh
(Budapester Rundschau,
1968/48. /november 29./ 7. p.)