Gyula Krúdy
Bemerkungen zu den «Sindbad»-Geschichten
Vor einiger Zeit hat der
Zsolnay-Verlag (Wien) Krúdys Roman «Die
rote Postkutsche» herausgebracht; demnächst wird derselbe Verlag die erste
deutsche Auswahl aus Krúdys «Sindhad»-Geschichten publizieren. György
Sebestyén, einer der Herausgeber, sagt zu Recht, daß damit sowohl einem Wunsch
der Literatur forschung als auch einer Erwartung vieler deutschsprachiger Leser
des Romans «Die rote Postkutsche» entsprochen
werde.
Sindbad, der Seefahrer, dessen Geschichte und Geschichtchen in der
Phantasie ungarischer Leser seit bald einem halben Jahrhundert ein
traumähnliches und doch auch gleichnishaftes Leben führen, sich in der
mythenbildenden Erinnerung mit den privaten Abenteuern ihres Autors Gyula Krúdy
vermischen, Lyriker zu Versen anregen, manche dichtende Jünglinge zu einem
Posen- und Possenspiel bewegen, Literaturforscher immer wieder zum Versuch
einer ästhetischen Analyse herausfordern oder bloß zum Nachdenken über eine
gültige Deutung verlocken – Krúdys seltsamer Held also betrat 1911 die
literarische Bühne, um sie während der folgenden dreiundzwanzig Jahre nicht
mehr zu verlassen.
Dreiunddreißig Jahre alt war Krúdy und noch diesseits des großen Erfolges
seines Romans «Die rote Postkutsche», als das erste Sindbad-Buch, «Sindbads
Jugend», im Vorlag der angesehenen literarischen Monatsschrift «Okzident»
erschien; im nächsten Jahr folgten «Das französische Schloß» und «Sindbads
Reisen», dann, 1916, «Sindbad. Die Auferstehung», 1917 «Sindbads Jugend und
Trübsinn», 1925 im Rahmen einer Gesamtausgabe «Sindbads Heimkehr» und 1934,
bereits nach Krúdy Tod, das letzte Sindbad-Buch «Purgatorium». Zwischen
«Sindbads Jugend» und «Purgatorium» liegt ein an sagenhaften Abenteuern reiches
und mehr noch innerlich bewegtes Leben, wuchert ein weitverzweigtes Werk und in
diesem auch die Welt des Sindbad, die Krúdy – seiner Inspiration folgend, noch
im tiefsten Rausch den Maßen einer sich allmählich heranbildenden Komposition
bewußt – immer wieder mit neuen Figuren ergänzte, mit Frauengestalten vor
allem, denn die Weiblichkeit ist es, die Sindbads Leben einen Sinn gibt und
beinahe gleichzeitig, noch im selben Atemzug sozusagen, seine Sinnlosigkeit
spüren läßt. Deshalb auch schwankt der von seiner Freiheit eines
sanften Raubtieres besessene Held ständig: zwischen heftigen Leidenschaften und
ermattender Melancholie, zwischen jubelndem Hoffen und tödlichem Verzagen,
zwischen verträumter Zärtlichkeit und rücksichtsloser Härte. Dichtung und
Wahrheit fließen ineinander über, um einen winzigen Kern Wirklichkeit bauschen
sich mächtige Illusionen, treiben den gerade noch versonnen Dahinwandelnden zum
fiebrigen Handeln, zum Erobern, doch wirkt die heißersehnte Umarmung auch
ernüchternd, am Liebesglück erweist sich die Begrenztheit menschlicher
Glückseligkeit schlechthin, bloß in der Erinnerung bleiben manche Bilder der
Freude zurück, Traumgebilde, die dann, bei einer anderen Gelegenheit, wieder
zum Erobern drängen. «Sindbad» ist ein einziges großes Maskenspiel des Eros.
Sindbads Welt ist also nur äußerlich jene des k. u. k. Spätbiedermeier –
das in dieser Form niemals existierte –, ist nur in seinen Requisiten, in den
altertümlich anmutenden Redewendungen und antiquierten Kostümen, in dem
romanzenhaften Trübsinn mancher Episoden und in der stets etwas
melancholischen, dem Lebensüberdruß verbissen trotzenden Lebensfreude
stilisiert. Die Aeußerlichkeiten sind nur Mittel der Inspiration, Dekorationen
einer Traumbühne, auf der fortwährend dieselbe fröhliche Tragödie gespielt
wird, doch mit verschiedenen Schauspielern, immer wieder, durch neue Akzente
plötzlich ganz und gar verändert. All die Manierismen Sindbads und seiner
zahllosen Damen geben dem abgrundtief Kreatürlichen eine menschliche Form weit,
machen durch Gesten und Gebärden, durch Blicke und Seufzer das Unbewußte
sichtbar, lassen inmitten einer scheinbaren Verfeinerung das
Tierisch-Triebhafte fühlbar werden. «Sindbads» vibrierende Spannung entspringt
diesem Paradoxon. Eros durchglüht die Stilisierung, pulsiert in der Melodie der
Krúdyschen Sprache, offenbart sich in der Abenteuerlichkeit mancher
Satzgebilde, spiegelt im scheinbar Gezierten das Allzuschlichte: die letzten
Endes unüberwindbare Fremdheit zwischen Mann und Frau. In mancher Hinsicht
erinnert dieser Sindbad an Don Quijote, der angesichts eines wirklichen Weibes
eine unwirkliche Dulcinea ersinnt, um diese dann lieben zu können. Und wenn
sich Sindbad auch keineswegs wie ein Asket benimmt, so ist es doch immer wieder
diese Traumgestalt, die er umgarnt und umarmt, um seine Hoffnungslosigkeit zu
überwinden und sich in Berührungen, süßen Worten, in der Lust zu verlieren.
Wenn Sindbad eine Frau seines Verlangens würdig findet, dann fordert er von der
Auserwählten völlige Hingabe, und zwar nicht einem geträumten, sondern einem
sehr handfesten und mit allerlei Launen behafteten Mann gegenüber, während
Sindbad selbst nicht die sich Hingebende, sondern ihre Bereitschaft liebt, sich
hinzugeben, und alles andere – die Liebe gleichsam nebenbei vollziehend – in
seiner grenzenlosen Phantasie erledigt. Er mag alle befriedigen, kann aber
selbst nicht befriedigt werden; der große Nehmende ist eigentlich stets der
Geber und bleibt nach jedem Liebesabenteuer, und gerade durch das eben erst
Erlebte, in grenzenloser Einsamkeit zurück. Ob das nun eine ethisch
gerechtfertigte Folge der Selbstsucht oder eine Tragödie der schicksalhaft
vorbestimmten Enttäuschung sei – diese Frage möge stellen und beantworten, wer
will. Sindbad hat für Ethos nicht viel übrig. «Was ist Moral?» soll Krúdy
einmal gefragt haben. «Moral ist eine Erfindung der Alten, der Häßlichen
und der Impotenten. Moral gibt es nicht.»
Freilich darf die Gestalt Sindbads weder mit der Legendenfigur noch mit der
wirklichen Person Gyula Krúdy identifiziert werden. Krúdy selbst versuchte
einmal, sich von seinem so sehr populär gewordenen Helden zu distanzieren. In
einem Zeitungsartikel «Wenn sich der Schriftsteller mit seinen Romanfiguren
trifft» schrieb er 1926, daß «die meisten Schriftsteller in ihren Romanen oft
sieh selbst als Modelle verwenden, deshalb verdächtigte man mich lange, daß ich
zum Beispiel in der Figur des Sindbad mich selbst gezeichnet habe. Nein, bitte,
in keinem meiner Romane habe ich über mich selbst geschrieben, denn ich halte
meine Person des Interesses des Lesers nicht genügend wert. Sindbad ist
eigentlich einer meiner Freunde gewesen, ein gewisser S. S., der in der Provinz
lebte und – für mich arbeitete. Manchmal sah ich ihn monatelang nicht, dann
erschien er auf einmal mit einer Menge neuer Geschichten im Zimmer. Er las die
Notizen über seine Abenteuer und Erlebnisse vor, manchmal flunkerte er dabei
auch, der Alte. Aber was die Frauen betrifft, da hatte er Beobachtungen
gemacht, die nur jemand sammeln konnte, der mit Frauen wirklich viel zu tun
hatte. Sindbad ist da, ließ er mir zuweilen spät nachts ausrichten, und ich
stand auf, um mir seine Geschichten anzuhören.» Den Krúdy-Forschern ist es
bisher nicht gelungen, dem großen Frauenkenner und Geschichtenerzähler S. S.
auf die Spur zu kommen, und manche meinen, auch der geheimnisvolle Mitarbeiter
Krúdys sei nur eine weitere Krúdy-Figur, an der Grenze zwischen Traum und
Wirklichkeit schwebend, ein alter ego des Dichters,
ein anderes Ich auch insofern, als S. S. zwar ebenso viele Erfahrungen über
Frauen gesammelt hatte wie Krúdy selbst, all die Abenteuer aber auch
weitererzählte, was Krúdy niemals tat.
In einer Hinsicht aber ist «Sindbad» gewiß autobiographisch: es spiegelt
die allmähliche Verwandlung eines Lebensgefühles wider, das Heranreifen und das
Altem eines Mannes, das Erwerben und Verlieren von Illusionen und das Entstehen
einer neuen, ins Metaphysische gerichteten Lust, die wir vielleicht Lust am
Jenseits nennen könnten. Die ersten Sindbad-Geschichten sind noch die
Erzählungen eines von Kraft wahrlich strotzenden, im Handeln beinahe
hemmungslosen Dreiunddreißigjährigen. Die Einleitung des Werkes, das «zur
Orientierung» verfaßte Prosastück «Flucht vor den Frauen», hat Krúdy sechs
Jahre später geschrieben, seinem vierzigsten Lebensjahr nahe, zu einer ersten
Uebersicht imstande, und, was mehr verrät, auch bereit. Aus dieser Zeit stammen
jene Geschichten, die Sindbads Spiel mit dem Sterben schildern und dann seine
zwei verschiedenen Wege zum Tod, aus dem der trotz aller Melancholie niemals
wirklich in Lethargie Versunkene unter die Lebenden zurückkehren kann, wenn
auch nur als körperloses – bestenfalls mit einem Körper vorübergehend
bekleidetes – Gespenst. Vielleicht irren wir uns nicht, wenn wir in diesem Teil
des «Sindbad» die Spuren eines Seelenzustandes entdecken, die manche
Psychologen heutzutage «altersbestimmte Depression» nennen, denn oft werden die
Menschen – und gerade die denkenden oder die mit Visionen geschlagenen unter ihnen
– irgendwann zwischen dem fünfunddreißigsten und dem vierzigsten Lebensjahr von
einer seltsamen Unlust befallen, von einer gefährlichen Fähigkeit, rückblickend
manches zu bereuen oder wenigstens resigniert abzutun, zugleich aber auch die,
wie es scheinen will, ziemlich trostlosen Aussichten einer erahnten Zukunft zu
registrieren. Wiederum ein paar Jahre später, um sein fünfundvierzigstes
Lebensjahr, schrieb Krúdy dann jene Abenteuer Sindbads, die der Seefahrer in
Begleitung seines Sohnes erlebt, auch stammen aus dieser Zeit manche völlig
desillusionierte Geschichten, wie etwa «Wie wird man Gespenster los?».
Die in chronologischer Reihenfolge der Entstehung letzte Geschichte unseres
«Sindbad» ist im Jahr 1932 entstanden; Krúdy war vierundfünfzig, als er diesen
wehmütigen Abschied von der Damenwelt, «Abenteuer am Geburtstag»,
niederschrieb, nicht ganz zwei Jahre vor seinem Tod. Doch ist «Sindbad» gerade
durch diese Vielfalt eine organische Einheit, gerade durch die
Unterschiedlichkeit der Bilder, die, durch einen inneren Zusammenhang verbunden,
in jedem Lebensalter ihres Dichters andere Farben haben. Wenn Krúdys Sätze
zuweilen Abenteuer sind, zwar in ungeahnten Richtungen ausschweifend, doch nach
den inneren Gesetzen der Phantasie an den Ursprung zurückkehrend, dann ist
«Sindbad» mit all den Variationen eines Themas keine Sammlung von Novellen,
sondern eine einzige Erzählung, in der jede Geschichte einem einzigen
Krúdyschen Satz gleicht. Die Vision ist etwas Organisches, auch wenn sie sich
über Jahrzehnte hindurch gleichsam in Fortsetzungen ereignet. Und wenn es im
menschlichen Leben etwas Unsterbliches gibt, so ist es die tieferlebte,
sinnlich erfaßte, in ihrer Lebendigkeit zur Form gewordene Gegenwart. Die
Vereinigung von Eros und Form ist «Sindbads» Geheimnis.
(Neue Zürcher Zeitung
(Zürich), 1967/192. (július 15.) 14. p.)